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Nein, dachte ich, während ich Poirot nacheilte, es bestand kein Zweifel mehr. Miss Arundell war ermordet worden, und Theresa wusste es. War sie selbst die Täterin, oder gab es eine andere Erklärung?
Sie hatte Angst. Angst um sich oder um einen anderen? Den sachlichen jungen Doktor etwa, mit dem gelassenen, distanzierten Wesen? War die alte Dame an einer künstlich herbeigeführten Krankheit gestorben?
Alles reimte sich so gut zusammen: Donaldsons Ehrgeiz, seine Annahme, dass Theresa ihre Tante beerben würde, sogar seine Anwesenheit beim Dinner an jenem Abend. Wie leicht, ein Fenster offenzulassen und mitten in der Nacht zurückzukommen, um die verhängnisvolle Schnur vor die Treppe zu spannen! Aber der Nagel in der Leiste?
Nein, das musste Theresa getan haben, seine Braut und Helfershelferin. Wenn man ein Komplott der beiden annahm, war der Fall sonnenklar. Wahrscheinlich hatte Theresa die Schnur gespannt; das erste Verbrechen, das erfolglose, war ihr Werk – das zweite, erfolgreiche, war Donaldsons wissenschaftlich fundiertes Meisterstück.
Aber weshalb hatte Theresa ganz offen von der Möglichkeit gesprochen, einen Menschen leberkrank zu machen? Das klang fast, als ahnte sie die Wahrheit nicht. In diesem Fall… Meine Gedanken verwirrten sich, und ich unterbrach mich, indem ich Poirot fragte:
«Wohin gehen wir?»
«Zu mir nachhause. Vielleicht ist Mrs Tanios bei mir.»
Mrs Tanios! Auch ein Rätsel! Wenn Donaldson und Theresa die Schuldigen waren, welche Rolle spielte Mrs Tanios und ihr ewig lächelnder Gatte? Was wollte sie Poirot erzählen und warum war der Grieche so bemüht, es zu verhindern?
«Poirot», sagte ich demütig, «ich bin völlig verwirrt. Sind sie am Ende alle beteiligt?»
«Mord durch ein Syndikat? Ein Familiensyndikat? Nein, in diesem Fall nicht. Dieser Mord deutet auf eine bestimmte Mentalität, und nur auf diese.»
«Sie meinen, dass es entweder Theresa oder Donaldson getan hat, aber nicht beide? Hat er ihr aufgetragen, den Nagel unter irgendeinem harmlosen Vorwand einzuschlagen?»
«Lieber Freund, als ich Miss Lawsons Aussage hörte, wusste ich gleich, dass drei Möglichkeiten bestehen. Erstens, dass Miss Lawson die Wahrheit sprach. Zweitens, dass Miss Lawson diese Geschichte zu irgendeinem Zweck erfunden hatte. Drittens, dass sie an ihre Geschichte glaubte, ihre Identifikation aber von der Brosche beeinflusst wurde; und eine Brosche ist, wie gesagt, ihrer Eigentümerin leicht zu entwenden.»
«Aber Theresa behauptet steif und fest, dass die Brosche nicht in fremde Hände kam.»
«Da hat sie vollkommen recht. Ich übersah einen Punkt von höchster Wichtigkeit.»
«Das bin ich von Ihnen nicht gewohnt, Poirot», sagte ich feierlich.
«Ich von mir auch nicht. Aber man macht manchmal solche Fehler. Ich werde Ihnen oben zeigen, was ich meine.»
George öffnete uns. Mrs Tanios hatte weder vorgesprochen noch angerufen.
Poirot ging eine Weile im Salon hin und her, dann griff er zum Telefonhörer. «Durham Hotel? Ja – bitte. Doktor Tanios? Hier Poirot. Ist Ihre Frau zurückgekommen? Nicht? Oh!… Ihr Gepäck, sagen Sie?… Und die Kinder… Und Sie wissen nicht, wohin… Das kann ich mir denken… Wenn ich Ihnen vielleicht behilflich sein kann – ich habe große Erfahrung in solchen Sachen… Man kann das ganz diskret… Nein, natürlich nicht… Ja, das stimmt… Gewiss, gewiss. Wie Sie wünschen.»
Er legte den Hörer auf die Gabel. «Er weiß nicht, wo sie ist. Ich glaube, er weiß es wirklich nicht. Seine Besorgnis ist unverkennbar. Er will sich nicht an die Polizei wenden, das begreife ich. Er will aber auch meine Hilfe nicht, das begreife ich weniger… Sie soll gefunden werden, aber nicht von mir. Nein, er will entschieden nicht, dass ich sie finde. Er glaubt, es selber zu können. Sie hat wenig Geld bei sich. Und die Kinder. Ja, er wird sie wahrscheinlich sehr bald ausfindig gemacht haben. Aber ich glaube, Hastings, dass wir ihm zuvorkommen werden. Es ist wichtig, dass wir ihm zuvorkommen.»
«Was meinen Sie, Poirot, ist es wahr, dass sie übergeschnappt ist?»
«Ich glaube, dass sie sich in hochgradig nervösem und angegriffenem Zustand befindet.»
«Aber nicht reif für eine Heilanstalt ist?»
«Keinesfalls.»
«Wissen Sie, Poirot, ich verstehe das nicht ganz – »
«Verzeihen Sie, Hastings, Sie verstehen das überhaupt nicht.»
«Sagen Sie, Poirot, haben Sie schon in Erwägung gezogen, dass es nicht sieben Verdächtige gibt, sondern acht?»
Trocken erwiderte er: «Das habe ich von dem Augenblick an in Erwägung gezogen, als Theresa Arundell erwähnte, dass sie Doktor Donaldson das letzte Mal am vierzehnten April beim Abendessen in Littlegreen House sah.»
«Ich verstehe nicht recht – »
«Was verstehen Sie nicht recht?»
«Nun, wenn Donaldson die alte Dame nach Wissenschaftlicher Methode beseitigen wollte, das heißt: durch Einimpfung, warum verfiel er dann zuerst auf den plumpen Ausweg mit der Schnur!»
«Wahrhaftig, Hastings, manchmal verliere ich die Geduld mit Ihnen! Die eine Methode ist rein wissenschaftlich und setzt genaueste Fachkenntnisse voraus, nicht wahr? Die andere Methode ist simpel und im höchsten Grade hausbacken, möchte ich fast sagen. Und nun denken Sie doch, Hastings, denken Sie! Lehnen Sie sich zurück, schließen Sie die Augen und denken Sie!»
Ich gehorchte, aber das Ergebnis meines Nachdenkens war dürftig. Als ich die Augen öffnete, sah mich Poirot an, wie ein Lehrer einen Schüler ansieht. Ich machte einen angestrengten Versuch, Poirots gewohnte Art nachzuahmen.
«Mein Eindruck ist, dass die Person, die die Falle stellte, nicht imstande wäre, einen so wissenschaftlichen Mord auszuhecken.»
«Richtig!»
«Und dass ein wissenschaftlich geschulter Kopf nicht auf einen so kindischen Plan wie den mit der Schnur verfallen würde.»
«Richtig!»
«Daraus folgt, dass zwei Versuche von zwei verschiedenen Personen gemacht wurden.»
«Sie halten das nicht für zu viel des Zufalls?»
«Poirot, Sie selbst sagten einmal, dass es fast bei jedem Mord einen Zufall gibt.»
«Allerdings. Das gebe ich zu. Aber wen halten Sie für die Täter?»
«Donaldson und Theresa Arundell. Der zweite, erfolgreiche Mordversuch deutet auf einen Arzt. Ferner wissen wir, dass Theresa bei dem ersten Versuch eine Rolle spielte. Ich halte es für möglich, dass jeder für sich einen Versuch unternahm.»
«Sie sagen ‹wir wissen›, Hastings. Was Sie wissen, weiß ich nicht – aber ich weiß nichts davon, dass Theresa eine Rolle dabei spielte.»
«Und Miss Lawsons Aussage?»
«Ist Miss Lawsons Aussage, und nichts als das.»
«Sie sagt aber – »
«Sie sagt – sie sagt – Sie sind immer gleich bereit, für bewiesen zu halten, was die Leute sagen. Hören Sie mir jetzt mal zu, mein Freund! Ich sagte ihnen früher, dass mir etwas an Miss Lawsons Geschichte als falsch auffiel. Jetzt weiß ich, was es war. Gedulden Sie sich einen Augenblick und sehen Sie mir nicht zu, was ich mache, dann werde ich es Ihnen zeigen!»
Er trat an seinen Schreibtisch und nahm aus einer Lade ein Stück Pappe und eine Schere. Ich wandte die Augen ab. Nach einer Minute stieß er einen zufriedenen Ruf aus, legte die Schere weg und ließ die Reste des Pappstücks in den Papierkorb fallen.
«Nicht hersehen, Hastings! Ich werde Ihnen jetzt etwas an den Rockaufschlag heften.»
Ich ließ ihn gewähren.
«So, und jetzt betrachten Sie sich im Spiegel, mon ami. Sie tragen jetzt eine hochmoderne Brosche mit Ihren Initialen – allerdings nicht aus Chromstahl, nicht aus Gold oder Platin, sondern aus bescheidener Pappe.»
Ich musste lächeln. Poirot ist ungewöhnlich geschickt. Auf meinem Rockaufschlag prangte eine sehr gelungene Nachahmung der Brosche Theresa Arundells – ein Reifen aus Pappe um meine Initialen: A H.
«Nicht wahr, eine schöne Brosche mit Ihren Initialen?»
«Sehr geschmackvoll», sagte ich.
«Zwar schimmert und glänzt sie nicht, aber Sie werden zugeben, dass sie von Weitem deutlich zu sehen wäre?»
«Habe ich nie bezweifelt.»
«Eben. Zweifeln ist nicht Ihre Seite. Schlichter Glaube liegt Ihnen mehr. Und jetzt lassen Sie mich einmal Ihren Rock anziehen! So! Und jetzt betrachten Sie die Brosche mit Ihren Initialen und sagen Sie mir, ob sie mir gut steht!»
Er wandte sich mir zu. Verständnislos sah ich ihn an. Und dann begriff ich.
«Oh, ich Trottel! Natürlich HA – und nicht AH!»
Strahlend sah er mich an und gab mir meinen Rock zurück. «Sehen Sie nun, was an Miss Lawsons Geschichte nicht stimmte? Sie erklärte, dass sie Theresas Initialen auf der Brosche deutlich gesehen habe. Aber sie sah Theresa im Spiegel. Und wenn sie die Initialen überhaupt sah, muss sie sie verkehrt gesehen haben!»
«Vielleicht sah sie sie verkehrt und begriff, dass sie sie verkehrt sah?»
«Mon cher, haben Sie es denn soeben begriffen? Nein! Und dabei sind Sie wahrscheinlich viel intelligenter als Miss Lawson. Wollen Sie mir einreden, dass eine so einfältige Frau, wenn sie mitten in der Nacht wach wird, im Halbschlaf begreift, dass AT eigentlich T A ist? Nein, das passt nicht zu Miss Lawsons geistigen Fähigkeiten.»
«Sie wollte es wahrhaben, dass es Theresa war», sagte ich.
«Das trifft schon eher zu. Sie erinnern sich, ich machte sie darauf aufmerksam, dass sie im Spiegel das Gesicht nicht gesehen haben kann, und sie – was tat sie prompt?»
«Erinnerte sich an Theresas Brosche – und vergaß, dass schon die Tatsache allein, dass sie diese im Spiegel gesehen hat, sie Lügen straft.»
Das Telefon schrillte.
«Ja?», fragte Poirot. «Ja… gewiss. Gern. Am Nachmittag. Sehr gut – um zwei.»
Er legte den Hörer auf und wandte sich lächelnd zu mir. «Doktor Donaldson wünscht mich zu sprechen. Er kommt morgen Nachmittag um zwei. Wir machen Fortschritte, mon ami – Fortschritte!»